Die Türkei (ausgerechnet) hat sich der Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen "Völkermords" (Genozid) in Gaza angeschlossen. So wie der halbe Globale Süden und zehntausende Demonstranten, Aktivisten und Extremisten auf der halben Welt. "Stoppt den Genozid" kann man in Deutschland und "Vereinigt euch gegen den Völkermord!" in Österreich bei zahlreichen Demos auf Plakaten lesen.

Internationaler Gerichtshof Den Haag
Die Türkei schließt sich der umstrittenen Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag an.
Foto: AFP / ANP / Remko de Waal

Natürlich ist das zum Teil antiisraelische und antisemitische Hetze. Nicht wenige Menschen halten den Krieg in Gaza für falsch. Aber handelt es sich bei dem Vorgehen der Regierung Netanjahu wirklich um einen Genozid?

Mörderische Trias

Genozid ist ein Straftatbestand im Völkerrrecht: die Absicht, auf direkte oder indirekte Weise "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören" (Definition der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord" durch die UN-Generalversammlung 1948).

Das wichtige Kriterium dabei ist die Absicht, der Plan, das Ziel. Es muss nicht zur gänzlichen oder teilweisen Vernichtung einer Gruppe kommen. Aber die Vernichtungsabsicht muss sich auf eine ganze Gruppe oder einen Teil von ihr richten. Entscheidend ist die geplante, organisierte, strukturierte, oft auch bürokratische Vorgehensweise. Der gebürtige Wiener Raul Hilberg, Verfasser des bahnbrechenden Standardwerks Die Vernichtung der europäischen Juden, beschrieb in eisiger Nüchternheit die mörderische Trias: "Die Idee, der Plan, die Tat." Bei Letzterer noch abgeleitet das Tatschema, die Tat selbst, ihre Vorbereitung und Durchführung.

Ein Genozid

Die Vernichtung der europäischen Juden (und der Sinti und Roma) ist der Genozid schlechthin. Bei beiden Volksgruppen bestand die Idee (Hitlers), der Plan (von tausenden NS-Funktionären) und die Tat (durchgeführt durch 300.000 Beteiligte). Seine Einzigartigkeit bezieht er aus dem totalen Vernichtungswillen und der hochorganisierten Durchführung.

So wie diesen hat es keinen anderen Völkermord gegeben. Aber es gab und gibt Ähnliches. Die Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern im Ersten Weltkrieg durch die Türkei; die Dezimierung der amerikanischen Indigenen zuerst durch die Spanier, dann durch die weißen Siedler (ob es da einen Plan und totalen Vernichtungswillen gab, ist fraglich). Die massenhaften Morde in Ruanda 1994 von einer Bevölkerungsgruppe (Hutu) an der anderen (Tutsi) mit hunderttausenden Opfern waren sicher von einer Hutu-Elite angestiftet.

Kein Genozid

Diese Kriterien fehlen beim Vorgehen der israelischen Armee in Gaza. Selbst die eindeutig religiös-rechtsextremen Koalitionspartner von Benjamin Netanjahu wünschen "nur" eine Vertreibung der Palästinenser aus Gaza (und aus dem Westjordanland); die israelische Kriegsführung mit massiven Bombenangriffen auf zivile Strukturen ist zweifellos rücksichtslos, überschießend, im Einzelfall (Behinderung von Versorgung) womöglich kriegsverbrecherisch. Aber es gibt keine Absicht zur vollständigen oder teilweisen Vernichtung der Bewohner von Gaza.

Die israelische Armee und die israelische Führung nimmt – schlimm genug – große zivile Opfer (darunter besonders viele Kinder) in Kauf. Dass sich die Mörderbande Hamas hinter den Zivilisten versteckt, ist evident, spricht aber die israelische Führung trotzdem nicht von der Verantwortung frei. Es ist ein unseliger Krieg mit teilweise fragwürdigen Motiven, der schnellstens von den Israelis beendet werden sollte. Aber es ist kein Genozid. (Hans Rauscher, 4.5.2024)